Die Entwicklungsgeschichte
Im alten Japan entwickelten sich im Laufe der Jahrhunderte viele hundert Schulen und Ausbildungssysteme, die den Umgang mit den klassischen Waffen wie Schwert, Naginata, Speer, etc. lehrten. Allen gleich war das Kernproblem des Kampftrainings, nämlich eine wirkungsvolle Ausbildung zu vermitteln ohne schwerwiegende Verletzungen unter den Schülern zu haben. In den meisten Schulen wurde auf der Grundlage des Katajutsu trainiert, das heißt zwei Schüler trainieren eine festgelegte Abfolge von Angriffen, Verteidigungen und Gegenangriffen mit entschärften bzw. gepolsterten Waffen, die aus Holz oder/und Bambus hergestellt wurden. Von diesen Formen kann es über hundert verschiedene geben, in denen die gängigen Waffen gegeneinander und auch in vielen möglichen Kombinationen, wie zum Beispiel Naginata/Schwert oder Schwert/Speer, aufeinander treffen. So erlernt der Schüler mit der Zeit ein großes Repertoire an Techniken und Situationen, aus dem er im Ernstfall schöpfen kann. Beispiele für noch heute praktizierte wichtige Koryû Naginatajutsu sind Tendôryû und Jiki Shinkageryû.
Tendôryû Naginatajutsu: Kata "Ishizuki Koishi Gaeshi no Midare"
Jiki Shinkageryû Naginatajutsu: Kata "Kiridome"
Da es beim reinen Katatraining jedoch schwierig ist, eine spontane, unkooperative Kampfsituation ohne Verletzungen nachzustellen, begannen manche Schulen Ende des 17. Jahrhunderts Schutzausrüstung und besondere ungefährliche Trainingswaffen einzuführen, die eine Art von freiem Kampf zuließen. Die Bezeichnung "frei" beinhaltet hier die Einschränkung, dass nur die geschützten Körperpartien als Trefferstellen zugelassen waren. Das prominenteste Beispiel für diese Evolution ist sicherlich die Ittô-Schwertschule, die großen Einfluss auf die Entwicklung des Kendô (Schwertkampf) mit seiner charakteristischen Rüstung (Bôgu) in der Mitte des 18. Jahrhunderts gehabt hat. Auf der Grundlage dieser Rüstung haben andere, erst später formulierte Disziplinen wie Naginata oder Jûkendô (Bajonettfechten) für sich spezifische Schutzausrüstung entwickelt.
Naginata in seiner heutigen Form gibt es erst seit der Gründung des ZNNR (Alljapanischer Naginata Verband) 1955 und ist die Folge einer Entwicklung, die bereits in den 30er Jahren ihre Anfang nahm. Damals bemühten sich Vertreter verschiedener alter Stile und auch die Regierung darum, eine Form von Naginatatraining für den Schulsport zu entwickeln.
Nach dem Krieg wurde diese Vorarbeiten in der Verbindung mit einem stilübergreifenden Ansatz wieder aufgenommen und mündeten in der Budôdisziplin Naginata, die nun auch das Rüstungstraining kennt. Interessanterweise findet man aber schon auf Holzdrucken aus der Edôzeit Darstellungen, auf denen Naginatakämpfer oder auch Speerfechter in Bôgu zu sehen sind.
Holzdrucke vom Training mit entschärften Waffen (Schwert, Naginata, Speer) und Schutzausrüstung
"Naginatadô" und "Atarashii Naginata"
Für die Budô-Disziplin, die den Umgang mit der Naginata lehrt, wäre der Name "Naginatadô" naheliegend (Dô: Im weltlichen Sinne Straße oder Weg, im philosophischen Zusammenhang Lebensweg). Diese Namensbildung wäre dann analog denen für Schwertkampf (Kendô), Bogenschießen (Kyûdô), Jûdô etc. Dies ist aber nicht der Fall. Die Budôdisziplin, die den Umgang mit der Naginata lehrt und den Rüstungswettkampf kennt, heißt schlicht Naginata - wie die Waffe selbst.
Eine solche Namensgebung mit "-dô" war in den 30er bzw. 40er Jahren in Gebrauch, als es von mehreren Seiten Bestrebungen gab, Formen von Naginata zu schaffen, die sich für den Unterricht in Schulen eigneten. Diese Übungsprogramme waren auf der Grundlage verschiedener Koryû Naginatajutsu mit dem Ziel der Leibesertüchtigung anhand der Naginata geschaffen worden. Eine dieser Methoden nannte sich "Gakkô Naginatadô" (d.h. "Schulnaginataweg") und basierte auf der Bewegungslehre von Jiki Shinkageryû Naginatajutsu.
Um den Unterschied zu den Koryû Naginatajutsu und auch zu den Übungsprogrammen der Vorkriegszeit wie Gakkô Naginatadô, denen in der Nachkriegszeit eine gewisse militaristische Vorbelastung anhaftete, deutlich erkennbar zu machen, wurde in frühen Jahren des ZNNR auch die Bezeichnung "Atarashii Naginata" (also "Neues Naginata") verwendet. Den Begriff "Atarashii Naginata" findet man mittlerweile fast nur noch außerhalb Japans, dann häufig auch falsch (ab-)geschrieben. In Japan wird er jedoch heute in der Regel nicht mehr verwendet.
Gakkô Naginatadô
Da sowohl Disziplin als auch Waffe Naginata heißen, ist natürlich für vielerlei Verwechslungen Tür und Tor geöffnet, insbesondere im gleichzeitigen Umgang mit den alten Stilen. Klar ist die Unterscheidung jedoch in der japanischen Schriftform.
Bedeutung und Schreibweise des japanischen Wortes "Naginata"
In jüngerer Zeit geriet das erste der beiden Kanji weitgehend in Vergessenheit und gehört nicht zu den Zeichen, die heute standardmäßig in Japan in der Schule gelehrt werden (Jôyô Kanji). Im heutigen Japan wird Naginata fast ausschließlich in Silbenschriftzeichen (Hiragana) geschrieben (Wort 3), die lediglich den Lautwert aber keine Bedeutung an sich tragen. Dies soll erneut den Unterschied zu den Koryû Naginatajutsu und den Übungsprogrammen der frühen Shôwazeit betonen. Auf die Schreibweisen 2 oder gar 1 trifft man aber bei der Beschäftigung mit Klingen und den alten Naginataschulen immer noch.
Die drei Schreibweisen für "Naginata"
Naginata und Frauen
Während die Naginata im Laufe der Zeit ihre Rolle auf dem Schlachtfeld verlor, wurde sie aufgrund ihrer Reichweite und der großen Hebelwirkung im 17. bis 19. Jahrhundert die Waffe, an der viele Frauen von Stand ausgebildet wurden. Als Mitgift wurden wertvolle Naginata zu Erbstücken der weiblichen Mitglieder einer Sippe. Aus dieser historischen Beziehung heraus wird Naginata heute in Japan überwiegend von Frauen ausgeübt. Außerhalb Japans ist das Geschlechterverhältnis jedoch ausgeglichener, mit einem Frauenanteil von ca. 25-50%.
Text: Andreas Nicol